Europa wird mit Gas überschwemmt

Nicht nur zusätzliche Terminal-Kapazitäten werden in Deutschland und Europa benötigt, auch muss das LNG-Angebot hoch bleiben. Bild: Adobe Stock

Was passiert gerade im europäischen Erdgasmarkt – ist die Krise schon vorbei? Das wohl nicht, allerdings sind Deutschland und Europa heute besser aufgestellt als noch vor ein paar Monaten.

Es ist schon eine absurde Situation. Der erste Satz im Vorwort des gerade erschienenen World Energy Outlooks der Internationalen Energie-Agentur lautet: „Derzeit befindet sich die Welt mitten in der ersten wirklich globalen Energiekrise, deren Folgen uns noch Jahre beschäftigen werden.“ Fast parallel zum Erscheinen der wohl noch immer weltweit wichtigsten Publikation zu globalen Energie­szenarien wird am niederländischen Handelspunkt TTF zumindest an einer Stunde während des Tages Erdgas mit einem negativen Preis gehandelt. Vor der Küste Spaniens lagen zeitweise mehr als 30 LNG-Tanker, die nicht entladen werden wollten oder in keinem der sechs spanischen LNG-Terminals entladen werden konnten. Was passiert gerade im europäischen Erdgasmarkt, und ist die Krise schon vorbei? Nicht wirklich, um dies gleich vorwegzunehmen.
Vor allem ist es in Europa viel zu warm. Damit liegt der Verbrauch von Erdgas zum Heizen deutlich niedriger als um diese Jahreszeit üblich. Die Bundesnetzagentur veröffentlich seit September Verbrauchsdaten auch für Haushalte und Gewerbeunternehmen auf Wochenbasis. Für die ersten drei Oktoberwochen lag der Verbrauch niedriger als der niedrigste Wert der vergangenen vier Jahre. Im Industriebereich führen die hohen Preise teilweise zu erheblichen Verbrauchsrückgängen. In Deutschland ist insgesamt die Gasnachfrage der Industrie um knapp 20 Prozent reduziert. 

Der Füllstand über alle deutschen Speicher liegt bei 98,9 Prozent

Zusätzliche Nachfrage zur Einspeicherung gibt es auch kaum noch. Die Speicher in den Mitgliedstaaten der EU sind, Stand 31. Oktober, zu knapp 95 Prozent gefüllt, in Deutschland beträgt der Füllstand über alle deutsche Speicher 98,90 Prozent. Eine ganze Reihe von Speichern sind sogar über das auf der europäischen Transparenzplattform AGSI+ angegebene maximale nominale Arbeitsgasvolumen hinaus gefüllt. Zu dem hohen Füllstand hat auch der Marktgebietsverantwortliche THE mit bei­ge­tragen, der die Speicher Rehden, Katharina und Wolfersberg befüllt hat. Rehden und Kath­a­rina, weil der eigentliche Nutzer Gazprom Export die Speicher nicht mehr genutzt hat. Wolfersberg, weil der Nutzer, Bayerngas, aus kommerziellen Gründen die Nutzung beendet hat. Die gesetzlichen Regelungen zur Speicherbefüllung und ihre Umsetzung in den Verträgen zwischen Speichernutzern und Betreibern haben Bayerngas wohl die Möglichkeit gegeben, den Vertrag mit dem eigenen Speicherbetreiber bayernugs zu kündigen. Klar ist, auch die extrem gut befüllten Speicher werden Deutschland und Europa allein nicht über den Winter bringen. Aber sie helfen. Die BNetzA hat am 20. Oktober in einem dreiseitigen Papier mit dem Titel „Wie lange reichen die Speicher“ ihre Gasverbrauchsszenarien vom August für den Fall eines vollständigen Wegfalls der russischen Lieferungen für Deutschland neu berechnet. Ergebnis: Für den Fall eines Winters mit normalen Temperaturen sind die Speicher Mitte März noch zu 54 Prozent befüllt. Eine Gasmangelsituation tritt nicht auf. Zudem müssen aber neben dem Wetter einige andere Faktoren stimmen:

Die aktuelle Verbrauchsreduktion muss sich während des Winters weiter fortsetzen. Die BNetzA unterstellt einen Rückgang der Nachfrage von 20 Prozent.

Die Gasexporte in unsere Nachbarländer, die im Moment auf einem sehr niedrigen Niveau sind, dürfen nicht stark wieder ansteigen. 

Deutschland ist eine Gasdrehscheibe, die sich in der Vergangenheit stark durch russische Transite drehte. Aber Handelsgesellschaften der Nachbarländer kaufen Mengen am deutschen Handelspunkt, oder LNG-Käufe in den Niederlanden oder Belgien werden durch Deutschland transportiert. Nach Tschechien gehen derzeit die meisten Exporte, zudem werden Mengen nach Österreich und Polen exportiert. Im Vergleich zu dem sehr niedrigen Niveau von Anfang Oktober steigen die Mengen wieder etwas. Wie sich dies in den nächsten Monaten entwickelt, bleibt abzuwarten. Die BNetzA rechnet in ihrem optimistischen Szenario mit leicht höheren Exporten als im Verlauf des Sommers.

Die Verfügbarkeit von zwei oder sogar drei schwimmenden LNG-Terminals (Floating Regasification and Storage Units (FSRUs)) spätestens zu Beginn des ersten Quartals 2023. 

Aktuell sieht es so aus, als ob diese Bedingungen erfüllt werden können. RWE Supply & Trading wird ein Schiff im Hafen von Bruns­büttel verankern, Uniper in Wil­helms­haven. Beide Schiffe wurden von der Bundesregierung gechartert. In beiden Fällen ist eine Pipeline-Anbindung an das Fernleitungsnetz notwendig. In Bruns­büttel handelt es sich nur um ein kurzes Stück. Die WAL (Wilhelmshaven-­Anbindungsleitung) zur Anbindung des Terminals in Wilhelmshaven ist immerhin 30 Kilometer lang. Der Fernleitungsnetzbetreiber OGE arbeitet mit Hochdruck an dem Projekt und ist optimistisch, bis zum Jahresende fertig zu sein. Das dritte Projekt, das Terminal Deutsche Ostsee in Lubmin, ist ein rein privates Vorhaben, das von zwei Unternehmern, Ingo Wagner, einem Investor aus Bruchsal, und Stephan Knabe, einem Steuerberater aus Potsdam, vorangetrieben wird. Es gab und gibt immer wieder Zweifel, ob sie ein solches Projekt wirklich bewältigen können. Bisher läuft es gut für sie.  Das besondere Problem in Lubmin: Der Hafen ist zu flach, um das LNG im Hafen zu speichern und zu regasifizieren. Ein Schiff zur Regasifizierung soll im Hafen liegen, ein zweites Schiff als LNG-­Speicher im ausreichend tiefen Wasser in der Ostsee. Shuttle-­Schiffe transportieren das LNG von der Speicher­einheit in den Hafen. Nicht ganz unkompliziert, aber eine technisch mögliche Lösung. Für das Terminal wurde Ende Oktober ein Open Season Verfahren für verbindliche Kapazität abgeschlossen. Die Nachfrage war rund doppelt so hoch wie die langfristig (fünf bis zehn Jahre) angebotene Kapazität von 3,6 Milliarden m3. Das Terminal wird ausgebucht sein. Auch das notwendige Genehmigungsverfahren für das Terminal wurde gestartet. Ob der 1. Dezember als Starttermin zu halten ist, bleibt aber abzuwarten. Die Pipeline-Anbindung ist aber unkompliziert.

In Eemshaven sind seit September zwei FSRUs in Betrieb

Dass die Erwartung der Bundesnetzagentur, neue LNG-Infrastruktur werde einen Unterschied machen, vermutlich berechtigt ist, kann man aktuell in den Niederlanden sehen. Seit September ist in Eemshaven das EemsEnergy LNG-Terminal in Betrieb. Es besteht aus zwei FSRUs mit einer Gesamtkapazität von 8 Milliarden m3. Die Kapazität war in einem Open Season Verfahren vergeben worden. In der ersten Oktoberhälfte war die Kapazität teilweise zu 90 Prozent ausgelastet. In Deutschland wird die Nutzung für die beiden Terminals in Wilhelmshaven und Bru­nsbüttel anders organisiert werden. RWE, Uniper und VNG/EnBW werden bis Ende März 2024 die Terminals exklusiv nutzen können. Dafür sichern sie zu, die Kapazität tatsächlich auszulasten. Diese exklusiven Nutzungsrechte haben bei vielen europäischen Marktteilnehmern Verärgerung ausgelöst, da sie auch gerne einen Zugang zu den Terminals und damit dem deutschen Markt gehabt hätten.

Aber nicht nur die zusätzlichen Terminal-Kapazitäten werden benötigt, das LNG-Angebot muss insgesamt hoch bleiben. Sind die vielen LNG-Schiffe, die vor Spaniens Küsten liegen, in dem Kontext gut oder schlecht für Europa? Im Grunde sind sie ein gutes Zeichen, denn sie zeigen, dass Europa grundsätzlich ein attraktiver Markt ist. Dies gilt vor allem für LNG-Lieferungen aus den USA, die flexibel dorthin dirigiert werden können, wo die Preise am höchsten sind. In Europa sind in den vergangenen Monaten die Preise deutlich höher als in Asien, dem weltweit größten LNG-Absatzmarkt gewesen. Dies ist auch eine Folge der aktuell eher schwachen Nachfrage in China, unter anderem bedingt durch die strikten Corona-Quarantäneregeln. Spanien ist in Europa der Markt mit der größten Regasifizierungskapazität. Viele Entladeslots wer­den häufig eher kurzfristig vergeben, berichtet ein LNG-Händler. Im Oktober waren aber die Tanks in den LNG-Terminals so voll, dass der Betreiber, die spanische Enagas, Probleme hatte, noch weitere Schiffe zu entladen. Dies hat dazu geführt, dass Entlade-Slots verschoben wurden und – anders als üblich – nur Tanker zugelassen wurden, die exakt die für den Slot vereinbarte Größe hatten. Der spanische Markt zeigt dabei auch exemplarisch eine weitere Schwäche des „europäischen“ LNG-Marktes. Es ist eben kein einheitlicher, durch die entsprechende Infrastruktur miteinander verbundener Markt. Die Infrastruktur­engpässe zwischen Spanien und Frankreich standen spätestens in jeder Tageszeitung, als Bundeskanzler Olaf Scholz und der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez vereinbart hatten, eine Pipeline, Midcat, wiederzubeleben, die schon einmal begonnen wurde. Damals wie heute sperren sich die Franzosen dagegen. Aber auch zwischen Frankreich und Belgien, beides Länder, in denen LNG-Terminals existieren, und Deutschland bestehen solche Engpässe, deshalb waren die Preise im Sommer in diesen Ländern teilweise deutlich niedriger als in Deutschland. LNG-lässt sich somit nicht gleichmäßig über Europa verteilen, ein Grund für solche Staus. Ein zweiter Grund ist die aktuelle Preiskonstellation. Für die Monate November und Dezember sind die Preise an den Handelsmärkten deutlich höher. So kostete der Day-Ahead am 31. Oktober 31,75 Euro/MWh an der TTF. Für den Dezember wurden 104,40 Euro/MWh bezahlt. Da lohnt sich die eine oder andere Warteschleife, auch wenn durch den „Boil off“ am Tag 0,1 Prozent des LNGs entweicht. „Das kostet um die 70.000 US-Dollar, je nachdem wie man rechnet, ist aber hinnehmbar“, sagte ein Händler. Die Reise aus Europa nach Japan ist keine echte Option. Die Frachtraten sind dermaßen explodiert, dass es lohnender ist, auf steigende Preise in Europa zu warten. Statt bisher 80.000 bis 100.000 US-Dollar/Tag werden aktuell eher 400.000 bis 500.000 US-Dollar/Tag aufgerufen.

LNG-Index statt TTF-Indexierung?

Ein weiteres Problem für den Markt ist, so Händler, die TTF-Indexierung in vielen LNG-Lieferverträgen mit europäischen Abnehmern, auch für Lieferungen in Spanien oder Frankreich. Der niederländische Handelspunkt ist nun mal der liquideste Hub und ermöglicht die beste Absicherung. Mit den starken Preisunterschieden wird dies aber zum Problem. Händler bezweifeln allerdings, ob ein LNG-Index oder Benchmark, den die europäische Regulierungsagentur ACER entwickeln soll, das Problem lösen kann. Die EU-Kommission hat dies in ihrem neuen Notfallmaßnahmenplan zur Stabilisierung der Gasmärkte vom 18. Oktober vorgeschlagen. Ein solcher Index soll besser die Anbindung Europas an den globalen LNG-Markt reflektieren. „Ein Index muss sich aus dem Markt entwickeln, nicht aus der Regulierung“, sagte ein Marktteilnehmer. Ein Analysts meinte, wenn die EU-Kommission etwas Sinnvolles tun will, solle sie zur Beseitigung der Transportengpässe zwischen den Mitgliedsstaaten einen Beitrag leisten.

Die aktuelle Gasschwemme ist somit kein Zeichen für Entwarnung. Sie ist im Grunde Teil der Krisenentwicklung und legt durchaus einen Teil der verbleibenden Probleme offen. Der Winter bleibt eine Herausforderung. Deutschland und Europa sind aber besser aufgestellt als noch vor ein paar Monaten, das ist dann doch die gute Nachricht.

Artikel von Heiko Lohmann
Artikel von Heiko Lohmann