Mit Siemens Energy und Ørsted sind zwei wichtige Akteure in der globalen Windbranche ins Straucheln geraten. Nun wachsen die Sorgen, ob die weltweiten Ausbauziele erreicht werden können.
Langfristig sind die Aussichten für die weltweite Windindustrie blendend, denn die Ausbauziele der Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks sind gigantisch: Bis 2030 soll sich die Kapazität europäischer Offshore-Windparks auf 60 GW verfünffachen, bisher sind in den europäischen Küstengewässern 12 GW installiert, davon 8,3 GW in Deutschland. Großbritannien will seine Erzeugungsleistung auf See unabhängig davon von derzeit 14 auf 50 GW steigern. Bis 2050 sollen in Europa Windfarmen mit einer Leistung von 300 GW auf den Meeren installiert sein. Nach Einschätzung der Internationalen Energie-Agentur (IEA) könnte die Offshore-Windenergie innerhalb der nächsten 20 Jahre zum wichtigsten Stromlieferanten in Europa werden und der Anteil der Stromerzeugung von derzeit 2 auf 25 Prozent steigen. Zusätzlicher Schwung für die Branche kommt aus den USA. US-Präsident Joe Biden will 12 Milliarden US-Dollar in den Ausbau der Offshore-Windenergie investieren und aus dem Stand heraus bis 2030 insgesamt 30 GW Erzeugungsleistung auf See errichten, um damit 10 Millionen Haushalte mit Ökostrom von der Ost- und Westküste zu versorgen.
Doch trotz aller positiven Prognosen hat die Branche Sand ins Getriebe bekommen – und die Probleme wirken inzwischen so massiv, dass die Ausbauziele in manchen Regionen gefährdet sind. Vor allem die gestiegenen Inflationsraten haben die Kosten für den Bau von Offshore-Windparks in die Höhe getrieben. Dazu kommen Lieferkettenprobleme, fehlende Komponenten und hausgemachte Probleme bei wichtigen Branchenakteuren. Schon im Sommer hatte der schwedische Energiekonzern Vattenfall sein Projekt Norfolk Boreas (1,4 GW) in Großbritannien gestoppt, nachdem die Kosten um etwa 40 Prozent aus dem Ruder gelaufen waren. Ende August kündigte dann der dänische Energiekonzern Ørsted, seines Zeichens Weltmarktführer bei der Umsetzung von Offshore-Windprojekten, eine Wert-Berichtigung seines US-Portfolios in Höhe von umgerechnet 2,2 Milliarden Euro an. Ende Oktober dann der nächste Schock bei den Dänen: Ørsted meldet einen Verlust von 2,7 Milliarden Euro und Abschreibungen in Höhe von fast 4 Milliarden Euro und kippte seine beiden US-Projekte Ocean Wind 1 (1,1 GW) und Ocean Wind 2 (1,15 GW) vor der Küste von New Jersey. Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe teilte Ørsted dann mit, dass man sich mit sofortiger Wirkung und „in gegenseitigem Einvernehmen“ von Finanzvorstand Daniel Lerup und Betriebsvorstand (COO) Richard Hunter getrennt habe. Ørsted befinde sich ebenso wie der Rest der Branche in einem herausfordernden und volatilen Geschäftsumfeld, sagte Mads Nipper, CEO des dänischen Energiekonzerns. „Daher sind der Vorstand und ich mit unserem derzeitigen CFO und COO übereingekommen, dass wir neue und andere Fähigkeiten für die Leitung der Bereiche Finanzen und EPC & Operations benötigen, um Ørsted auf seinem Weg in die Zukunft zu unterstützen“. Die Suche nach einem neuen Finanzvorstand und einem neuen Betriebsvorstand sei eingeleitet worden und solle so schnell wie möglich abgeschlossen werden. Vorläufig werde Rasmus Errboe, bisheriger CEO der Region Europa und Executive Vice President, das Finanzressort kommissarisch übernehmen. Er ist seit 2012 in verschiedenen Positionen für das Unternehmen tätig. Als Interims-Betriebsvorstand wird Andrew Brown, Mitglied des Ørsted-Aufsichtsrats, fungieren.
Auch andere Akteure haben sich im US-Markt offenbar verkalkuliert. So musste etwa der norwegische Energiekonzern Equinor Wertabschreibungen in Höhe von 300 Millionen US-Dollar auf seine amerikanischen Projekte vornehmen, auch BP hat mit Schwierigkeiten im US-Markt zu kämpfen und nahm für seine Windkraftprojekte vor New York eine Abschreibung von 540 Millionen US-Dollar vor. Für US-Präsident Biden müssen diese Nachrichten ein Alarmsignal sein. Offenbar sind die Förderinstrumente in den USA nicht ausreichend, damit Investoren mit Offshore-Windstrom in den USA marktfähige Preise erzielen und eine ausreichend hohe Rendite erwirtschaften können. Anja-Isabel Dotzenrath, im BP-Vorstand für low carbon energy verantwortlich, erklärte gegenüber der „Financial Times“, dass die Offshore-Windindustrie in den USA „grundlegend kaputt“ sei und einen fundamentalen Neustart benötige, um dem noch jungen und aufstrebenden Markt zu weiterem Wachstum zu verhelfen.
Derzeit machen aber auch Anlagenhersteller mit Krisen-Nachrichten Schlagzeilen. Die Hintergründe sind dabei vielschichtig, und trotz gut gefüllter Projektpipeline rutschen einige Akteure in Schieflage – auch weil die Konkurrenz aus Fernost technologisch immer schneller voranschreitet. Schon seit einiger Zeit läuft der Wettlauf um die leistungsstärkste Offshore-Windturbine auf Hochtouren. In diesem Jahr startete Siemens Gamesa in Dänemark den Testlauf für eine 15 MW-Mühle, die für Offshore-Anwendungen konzipiert wurde. Dabei liefert sich das Unternehmen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Wettbewerbern GE Renewable Energy, Vestas oder Goldwind aus China. Derzeit liegen die Chinesen vorn: Goldwind hat in diesem Sommer im Offshore-Windpark Fujian eine Turbine mit 16 MW errichtet. Und während diese beiden Anlagen bereits getestet werden, hat der chinesische Hersteller Mingyang Smart Energy Konzepte für eine neue Leistungsklasse vorgestellt, die einem Quantensprung gleichkommen. Eine 330 Meter hohe Offshore-Turbine soll 22 MW Leistung haben, speziell für Starkwindregionen konzipiert sein und auch tropischen Wirbelstürmen standhalten. Zudem könne die Anlage auf konventionellen Gründungsstrukturen auf dem Meeresboden oder als schwimmende Offshore-Anlage installiert werden. 2024 oder 2025 soll nach Angaben des Herstellers mit dem Bau der Anlage begonnen werden.
Hierzulande wird Siemens Energy von den Qualitätsproblemen seiner Tochter Siemens Gamesa bei den Onshore-Turbinen eingeholt und erwartet für dieses Jahr einen Verlust von fast 4,6 Milliarden Euro. Die Bundesregierung greift dem Unternehmen nun mit einer Bürgschaft über insgesamt 15 Milliarden Euro unter die Arme. „Diese Maßnahme ist ein entscheidender Schritt, um eine robuste Lieferkette auszubauen, die für die Umsetzung der gesetzlich festgelegten Ausbauziele im Bereich der Offshore-Windenergie unerlässlich ist“, erklärt dazu Stefan Thimm, Geschäftsführer des Bundesverbands Windenergie Offshore (BWO) in einem Statement. Die Entscheidung unterstreiche das industriepolitische Engagement der Regierung, die Entwicklung und Skalierung der Windenergiebranche zu unterstützen. „Die Energiewende auf See benötigt einen starken Ausbau der industriellen Kapazitäten, vor allem bei der Produktion von Windenergieanlagen. Wir sind davon überzeugt, dass dieser Schritt einen bedeutenden Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen, zur Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten und zur Stabilität der gesamten europäischen Wertschöpfungskette der Offshore-Windindustrie leisten wird“, so Thimm.
Nach Einschätzung von Branchenexperten ist eine starke Lieferkette von zentraler Bedeutung, um die Ausbauziele für Offshore-Wind zu erreichen und die Energiewende erfolgreich voranzutreiben. Auf dem dena-Energiewendekongress betonte Barbara Praetorius, Professorin für Umwelt und Nachhaltigkeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin: „Wir müssen dringend eine Resilienzstrategie umsetzen, damit wir einen bestimmten Anteil an Eigenproduktion und eine Diversifizierung der Lieferstrukturen haben.“ Sie verwies auf Studien, nach denen 30 Prozent Eigenversorgung mit Windkraftkomponenten erforderlich sei, um den Ausbau der Windenergie nicht durch Unternehmenspleiten oder andere Störungen zu bremsen.
Im Rahmen ihrer Offshore-Ausbauziele rechnet die Bundesregierung mit einem Bedarf an 33 zusätzlichen Konverterstationen auf See in denen der Strom aus den Offshore-Anlagen gebündelt und als Gleichstrom umgewandelt an Land übertragen wird. Für die neue 2 GW-Leistungsklasse gibt es in Europa derzeit nur einen geeigneten Werftenstandort in Spanien. Viele Aufträge wurden deshalb in der Vergangenheit auch nach Fernost vergeben, obwohl im ersten Hochlauf der Offshore-Windenergie in Deutschland kleinere Konverterplattformen auch aus heimischen Werften geliefert wurden. Mit der Unterzeichnung eines Eckpunktepapiers hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am 15. November nun den Weg für den Bau von Offshore-Konverterplattformen in Rostock-Warnemünde offiziell freigemacht. Nach der Insolvenz der MW-Werften vor zwei Jahren hatte der Bund den Standort als Marine-Arsenal übernommen und lässt dort mit rund 500 Beschäftigten planmäßig vier Marineschiffe pro Jahr instandsetzen. Diese militärische Nutzung stand lange Zeit einer zivilen Nutzung im Wege. Nun sei zwischen den Investoren und dem Marinearsenal der Bundeswehr sowie der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) eine Ko-Nutzung des Standortes für die nächsten 15 Jahre vereinbart worden. „Die nun besiegelte Dreiecksvereinbarung zwischen Marinearsenal, BIMA und den Investoren sowie die zeitgleiche Gründung des Joint Ventures zwischen den Unternehmen Smulders und Meyer Neptun Werft sind nicht nur bedeutende Schritte für die involvierten Unternehmen, sondern auch ein wichtiger Meilenstein für die deutsche und europäische Offshore-Energiewende“, kommentiert Karina Würtz, Geschäftsführerin der Stiftung Offshore-Windenergie. Weitere europäische Produktionsstätten für die gigantischen und technisch hochsensiblen 2 GW-Konverterplattformen seien nicht nur unabdingbar für die Erreichung der deutschen und europäischen Offshore-Wind-Ausbauziele, „sie bieten auch ein hohes sicherheits-, wirtschafts- und industriepolitisches Potenzial“, macht Würtz deutlich. Ohne eine gesicherte heimische Produktion dieser entscheidenden industriellen Komponente in Europa drohen ihrer Meinung nach Produktionsengpässe sowie eine unkalkulierbare Gefahr durch geopolitische Verwerfungen. Es sei ein gutes Beispiel, wie Probleme pragmatisch gelöst werden könnten. Das Bundesverteidigungsministerium habe lösungsorientiert einer gemeinsamen militärischen und zivilen Ansiedlung zugestimmt, „obwohl dies ein außerordentlicher Ausnahmefall bei Liegenschaften der Bundeswehr ist“, unterstrich Würtz und hob den besonderen Beitrag zur Energiewende hervor.